Wer mit dem Begriff des "entscheidenden Momentes" - auf Englisch ("decisive moment") - mit Bezug auf Photographie spielt, meint unweigerlich die Photographie mit Messsucherkameras, auch Rangefinderkameras genannt. Genau genommen wird jene Kunst der Photographie gemeint, die Henri Cartier-Bresson (HCB) betrieb und heute salopp als "Candid" oder "Street photography" bezeichnet wird.
Wenn man sich dann so einige Einträge auf einschlägigen Foren durchliest, worin sich darüber aufgeregt wird, dass die Leica Camera AG für das Modell MP eine Rückspulkurbel für 160,-€ anbietet, wo diese doch "essentiell" in der heutigen Zeit ist, um "candids" mit Rangefinder Systemen überhaupt (noch) zu schiessen, dann muss ich der Fa. Leica einfach nur Recht geben, für dieses Teil Geld zu verlangen. Von mir aus könnte die Kurbel auch 320,-€ kosten, denn sie ist definitiv NICHT essentiell für den (neudeutsch) "decisiven Moment"!
Im Gegenteil, sie ist vollkommen überflüssig! HCB hatte auch keine Kurbel und konnte den entscheidenden Moment lichtzeichnen. Und für diejenigen, die meinen, daß die Zeit heute schneller läuft habe ich folgende einfache Antwort. Sie irren sich. Die Zeit läuft nicht schneller, sie ist nur chaotischer und das bedeutet für den Geniesser der Rangefinderphotographie mehr Planung im Voraus als es vielleicht HCB je machen musste. Ausserdem hat der Rückspulknopf gegenüber der Kurbel einige Vorteile: Durch den erzwungenen langsamen Filmtransport gibt es keine elektrostatischen Entladungen die sich auf dem Film bemerkbar machen (Fogging) und die Rückspulmechanik kann robuster ausgeführt werden (es hat nicht umsonst so lange gedauert, einen Aufzieh-“Hebel“ in die Kameras zu integrieren).
Nun ein paar Tips für den RF-Liebhaber:
Bevor ich mich als Dokumentarzeuge, als Photograph, in die "decisive" Scenerie begebe, stelle ich sicher, dass ich 36 Bilder in der Kamera habe. Und wie so oft gilt auch hier, Qualität geht über Quantität. Die Kunst des rechtzeitigen Auslösens liegt in der Fähigkeit die visuellen Reize rechtzeitig in Reize zu wandeln, die eine mechanische Bewegung des Fingers verursachen. Es liegt also am Menschen und nicht am Equipment. Man ist nicht gleich HCB, nur weil man 'ne Leica in der Hand hält. Und wenn der Mensch eine grosse Rolle spielt, dann sind die Erfüllung der körperlichen Bedürfnisse die wichtigsten Voraussetzungen und keine Rückspulkurbel an der Kamera. Müde und hungrige Augen sind eine schlechte Voraussetzung für den "decisiven Moment". Ein alkoholisiertes Gehirn hat eher den Drang zum Klo, als zeitgerecht auf den Auslöser zu drücken. Ich denke der Leser weiß nun was ich meine.
Wer die hier genannten Tips nicht umzusetzen vermag, sollte seine Rangefinderkamera in die Vitrine legen, oder besser noch an einen Liebhaber der praktischen Photographie (mir) zu einem vernünftigen Preis verkaufen, den digitalen Rand (Foren) halten und sich eine digitale Spiegelreflex zur Hand nehmen. Autofokus, ISO 3200 und die Programmfunktion der Canikon stellt dann sicher, dass der "entscheidende Moment" sich innerhalb einer Serie von Bildern befindet, nachdem der Finger auf den Auslöseknopf gefallen ist.
Ach ja, eine Frage mal so am Rande, wie schnell dauert es eigentlich, den "digitalen Film" zu wechseln ... ?